Es ist der Feiertag schlechthin: Die ganze Großfamilie kommt zusammen, es gibt Truthahn, die Stimmung ist festlich wie bei uns zu Weihnachten. Doch nach dieser Wahl ist alles anders. Viele Amerikaner fürchten um den Familienfrieden: Wer in der Familie hat Donald Trump gewählt? Und müssen wir bei Tisch darüber reden?
Frederick Jones steigt in San Francisco mit einem unguten Gefühl in den Flieger nach Denver. Am Donnerstag ist Thanksgiving, Fredericks ganze Familie, inklusive Cousins, Onkel und Tanten, erwartet ihn zum Festessen. Dem 38jährigen Software-Ingenieur steckt die Wahl noch in den Knochen, er war ein aktiver Hillary-Unterstützer, hat neben seinem Job bei Google jede freie Minute in Clintons Wahlkampfzentrale in San Jose geholfen.
Seine Familie in Colorado wusste von seinem Engagement - und wurde in den Wochen vor der Wahl immer schweigsamer. Frederick hatte im Kampagnenstress keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Am Tag nach Trumps Wahlsieg schreibt er eine SMS nach Hause: „Was für ein Desaster!“ Seine Mutter textet zurück: „Well, wir haben nicht für Hillary gestimmt.“ Ein Schock für Frederick. Er war davon ausgegangen, dass auch seine Familie wie immer demokratisch gewählt hat. Nun das Fest der Feste, wo sich alle zum ersten Mal wiedersehen. Frederick: „Mir graut davor, aber wir werden darüber reden müssen.“ Die politischen Meinungsverschiedenheiten totzuschweigen, dem Familienfrieden zuliebe, das kommt für ihn nicht in Frage.
Richtig so, sagt Robb Willer, Professor für Soziologie und Psychologie an der Uni Stanford. „Rennen Sie ins Feuer. Es mag sich falsch anfühlen, aber es könnte ein Anfang sein, das Land wieder zusammen zu bringen. Fangen wir in der Familie an.“ Was nicht heißen soll, dass man versuchen soll, beim Truthahn-Dinner die politische Einstellung der Großtante umzudrehen. „Einfühlungsvermögen ist wichtig. Wir müssen versuchen, die Perspektive des anderen Familienmitglieds einzunehmen, verstehen, was ihn oder sie zu dieser Wahlentscheidung bewegt hat."
Andere amerikanische Psychologen raten dagegen eher, das Thema komplett zu vermeiden. Genau das hat sich auch Victoria Mendoza vorgenommen. Die 47jährige, die für SAP im Silicon Valley arbeitet, fliegt über die Feiertage zu ihren Eltern nach San Diego in den Süden Kaliforniens. Und die haben Donald Trump gewählt. „Ich bin die Tochter mexikanischer Einwanderer. Wir sind in den frühen Achtzigern gekommen, auf ganz legalem Weg, meine Eltern haben hart dafür gearbeitet und deshalb sind sie gegen jede illegale Einwanderung.“, so Victoria. „Sie befürworten sogar den Bau der Mauer.“ Die so konservativ erzogene Victoria änderte ihre politische Einstellung, als sie zum Studieren in die Bucht von San Francisco kam, später auch in Europa arbeitete. Und hat jetzt wie die meisten Kalifornier Hillary Clinton gewählt. Das Thanksgiving-Treffen mit ihren drei Brüdern und Eltern ist für sie vermintes Gelände. „Ich werde versuchen, einfach das Thema zu wechseln, wenn einer mit Politik anfängt.“
Bei Lisa Singleton Quijano fällt das große Familientreffen zum ersten Mal gleich ganz aus. Die 56jährige kommt aus einer großen, sehr liberalen kalifornischen Familie. Zwei ihrer Brüder wechselten über die Jahre politisch die Seite, einer unterstützte gar aktiv die ultrakonservative Tea Party-Bewegung. Und jetzt haben beide sehr wahrscheinlich Trump gewählt. Lisa, in deren Haus in Morgan Hill die Thanksgiving-Party eigentlich stattfinden sollte, verspürte sowieso schon wenig Lust auf die Gastgeberrolle so kurz nach der Wahl. Und dann sagten ihre Geschwister und Verwandten der Reihe nach wieder ab, jeder aus anderen Gründen. „Ich denke, uns allen fehlte in diesem Jahr der Wille, sich zu treffen.“, so Lisa. „Das ist sehr ungewöhnlich, denn in unserer Familie ist Thanksgiving fast wichtiger als Weihnachten. Es macht mich sehr traurig.“ Die Englischlehrerin, die für Stanford Continuing Studies arbeitet, hofft jetzt nur eins: „Dass wir als Familie da ohne tiefere Verletzungen wieder herauskommen.“
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